Wie häufig es in der Pflege zu Gewalt kommt, ist nicht genau bekannt. Doch sicher ist: Gewalt in der Pflege ist ein relevantes Problem. Fachleute gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.
Erforschung von Gewalt in der Pflege
Es ist schwierig, die Häufigkeit von Gewalt in der Pflege zu erforschen. Das hat mehrere Gründe: Gewalt kommt in ganz unterschiedlicher Weise vor. Mitunter wird sie als solche auch nicht erkannt. Außerdem kann es sein, dass über Vorfälle nicht gesprochen wird, zum Beispiel aus Angst oder Scham.
Pflegebedürftige Menschen können zudem nur selten direkt zu ihren Gewalterfahrungen befragt werden. Gerade Menschen mit Demenz sind nur eingeschränkt auskunftsfähig. Daten zu Gewalt in der Pflege werden daher häufig über Befragungen von Pflegenden und Versorgungseinrichtungen erfasst. Die Ergebnisse können aber in der Regel nicht verallgemeinert werden, das heißt, sie sind nicht repräsentativ. Die Antworten der Befragten hängen auch sehr davon ab, wie die Fragen gestellt wurden. Zum Beispiel: Wird nach ihrem eigenen Gewaltverhalten gefragt, antworten die Befragten wahrscheinlich nicht immer ehrlich. Über ihr negatives Verhalten möchten viele Menschen nicht alles berichten. Daher sind die Zahlen aus verschiedenen Studien oft verzerrt und zudem nicht direkt vergleichbar.
International gibt es wenige Studien, die spezifisch Gewalt in der Pflege beleuchten. Vielmehr wird sie als Sonderfall der Forschung zur Gewalt gegen Ältere thematisiert. Dennoch gibt es Anhaltspunkte aus verschiedenen Studien wie häufig Gewalt in der Pflege in Deutschland vorkommt.
Zahlen zur Häufigkeit von Gewalt in der Pflege
Gewalt in der professionellen Versorgung
In einer Studie des ZQP im Jahr 2017 wurden 250 Pflegedienstleitungen und Qualitätsbeauftragte zu dem Thema befragt. Die Hälfte von ihnen gab an, dass Konflikte, Aggression und Gewalt in der Pflege die stationären Einrichtungen vor ganz besondere Herausforderungen stellen. Nach Einschätzung der Befragten sind die häufigsten Gewaltformen verbale Aggressivität, Vernachlässigung und körperliche Gewalt.
In einer Befragung von Beschäftigten stationärer Einrichtungen in Hessen und Nordrhein-Westfalen (2018) gaben 72 Prozent an, in den letzten zwölf Monaten mindestens einmal Gewalt ausgeübt zu haben. Rund die Hälfte berichtete von Vernachlässigung und psychischer Gewalt, ungefähr ein Drittel von körperlicher Gewalt und freiheitsentziehenden Maßnahmen (FEM).
Laut dem letzten Qualitätsbericht des Medizinischen Diensts des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) von 2020 wurden bei 7 Prozent der stationär versorgten pflegebedürftigen Menschen FEM angewendet. Diese gelten als spezielle Gewaltform. Studien legen den Schluss nahe, dass ruhigstellende Medikamente häufig als FEM eingesetzt werden.
In stationären Pflegeeinrichtungen sind außerdem Aggressionen, Konflikte und Gewalt zwischen pflegebedürftigen Menschen keine Seltenheit. Dies zeigen Ergebnisse einer Studie in Nordrhein-Westfalen: 70 Prozent der befragten Beschäftigen berichteten 2017/2018, in den letzten vier Wochen verbale Aggressionen zwischen pflegebedürftigen Menschen in Pflegeeinrichtungen erlebt zu haben. 33 Prozent hatten körperlich aggressives Verhalten und 10 Prozent sexuelle Übergriffe beobachtet.
Aber auch Pflegende erfahren Gewalt. In derselben Studie gaben ungefähr zwei Drittel der Befragten an, in den letzten vier Wochen Gewalt durch pflegebedürftige Menschen erfahren zu haben. Sie sind vor allem verbalen Angriffen ausgesetzt (63 Prozent), aber auch körperliche Gewalt (38 Prozent) sowie sexuell übergriffiges Verhalten (14 Prozent) kommen vor. Ein erhöhtes Risiko haben Pflegende, die Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder Verhaltensstörungen betreuen.
Das erste Projekt speziell zu sexueller Gewalt in der Pflege in Deutschland wird derzeit gemeinsam vom ZQP und der Deutschen Hochschule der Polizei (DHPol) durchgeführt. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) fördert das Projekt.
Gewalt in der Familie
Gewalt kommt auch in der häuslichen Pflege vor. Wenn pflegende Angehörige in Befragungen von unangemessenem Verhalten gegenüber einer pflegebedürftigen Person berichten, handelt es sich meist um verbale Aggressionen. Von körperlicher Gewalt wird seltener berichtet.
2018 gaben in einer ZQP-Studie 32 Prozent der über 1000 befragten pflegenden Angehörigen an, psychische Gewalt gegen die pflegebedürftige Person angewendet zu haben. 12 Prozent berichteten von körperlicher Gewalt, 11 Prozent von Vernachlässigung. Etwa die Hälfte hat aber auch schon psychische Gewalt seitens der pflegebedürftigen Person erfahren, zum Beispiel durch Anschreien oder Beleidigen. 11 Prozent haben körperliche Gewalt wie grobes Anfassen oder Schlagen erlebt.
QUELLEN
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AKTUALISIERT
am 04. Mai 2022
AUTOREN
D. Sulmann, D. Väthjunker